Wie ich in radikaler Unsicherheit Orientierung finde – unterwegs in Marokko

Die meisten von uns mögen keine Unsicherheit. Sie ist unbequem, fordernd, manchmal sogar bedrohlich. Aber solange wir zumindest die Wahrscheinlichkeiten kennen, können wir sie ertragen – so sagt es der Psychologe Barry Schwartz. Doch was, wenn selbst das nicht mehr möglich ist? Wenn die Welt sich schneller verändert, als unsere Berechnungen hinterherkommen?

Wir leben in Zeiten radikaler Unsicherheit – in denen es nicht mehr reicht, Risiken zu kalkulieren, als ob wir Münzen werfen oder Würfel rollen. In denen wir nicht nur nicht wissen, was passieren wird – sondern oft nicht einmal, was passieren könnte. Keine Wahrscheinlichkeiten. Keine Verlässlichkeit. Keine alten Karten, die uns durch neues Terrain führen.

Und doch lag genau hier, in den weiten Landschaften Marokkos, eine stille Einladung.

Ich war unterwegs mit dem Fahrrad – durch Gebirge, Wüsten, Städte, Wind. Kein fester Plan, oft keine Reserven. Ich wusste nicht, wo ich schlafen würde. Ob es Wasser gibt. Wer mir begegnet. Was mich erwartet. Ich bewegte mich durch Räume, in denen nichts sicher war – außer meinem Willen, weiterzugehen.

In dieser Unsicherheit entdeckte ich eine andere Form von Orientierung. Kein Navigationssystem, sondern ein inneres Spüren. Keine Kontrolle, sondern Vertrauen. Kein vorgezeichneter Weg, sondern eine wachsende Beziehung zur Gegenwart.

Unsicherheit wurde zum Prüfstein für etwas Tieferes: Wie klar bin ich mit mir? Wie lebendig bin ich im Moment? Kann ich dem begegnen, was kommt – auch wenn ich es nicht benennen kann?

Radikale Unsicherheit zwingt mich, meine Karten wegzulegen – und stattdessen meine Sinne zu schärfen. Sie verlangt, dass ich nicht länger auf Garantien baue, sondern auf Verbundenheit. Auf den Mut, mit Menschen in Kontakt zu treten. Auf den inneren Kompass, der nicht in Zahlen spricht, sondern in Wahrnehmung, Erfahrung und Intuition.

Vielleicht ist das der eigentliche Wert solcher Reisen: dass sie mich nicht nur geografisch bewegen – sondern in eine Beziehung mit dem führen, was nicht planbar ist. Dass sie mich lehren, mich zu verlieren, um etwas Tieferes zu finden.

Und vielleicht beginnt genau hier eine neue Form von Freiheit. Nicht in der Abwesenheit von Unsicherheit – sondern in meiner Fähigkeit, mit ihr zu tanzen.

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Hirn, Bauch oder Herz?